David Foster Wallace, Die enorme Last des Erwachsenwerdens

aus Beitrag von Welt.de 2.Jan.2009 (Datei auf Welt.de nicht mehr vorhanden)

Rede, die er im Mai 2005 vor Absolventen des Kenyon College in Gambier, Ohio hielt

Schwimmen zwei junge Fische daher und treffen auf einen älteren Fisch, der in die andere Richtung schwimmt, ihnen zunickt und sagt: „Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?“ Und die beiden jungen Fische schwimmen noch ein bisschen, bis der eine schließlich zum andern rübersieht und sagt: „Was zur Hölle ist Wasser?“

Wenn Sie jetzt fürchten, ich wollte mich hier als der weise, ältere Fisch darstellen, der Ihnen, den jüngeren Fischen, erklärt, was Wasser für Sie bedeutet, bitte keine Sorge. Ich bin nicht der weise alte Fisch. Der Punkt der Fisch-Geschichte ist bloß, dass die offensichtlichsten, allgegenwärtigsten, wichtigsten Realitäten oft die sind, die man am schwersten erkennen und über die man am schwersten reden kann. Als englischer Satz ist das natürlich eine Platitüde, aber Tatsache ist: in den Tag-für-Tag-Schützengräben des Erwachsenenlebens können Platitüden eine Überlebensfrage sein.

Wer das College verlässt, weiß nichts

Ein großer Prozentsatz des Zeugs, dessen ich mir fast automatisch sicher bin, ist, stellt sich heraus, völlig falsch und irreführend. Hier ein Beispiel: Alles, was ich unmittelbar erlebe, stützt meine tiefe Überzeugung, dass ich das absolute Zentrum des Universums bin, die wirklichste, lebendigste und wichtigste Person, die es gibt.

Weil sie so sozial unverträglich ist, sprechen wir nur selten über diese Art natürlicher, grundlegender Selbst-Zentriertheit, aber tief drinnen ist es für uns alle ziemlich dasselbe. Es ist unsere Standardeinstellung und fest in unseren Platinen verdrahtet, wenn wir geboren werden.

Denken Sie darüber nach: Es gibt keine Erfahrung, die Sie gemacht haben, deren absolute Mitte nicht Sie selbst gewesen wären. Die Welt, wie Sie sie erleben, ist direkt vor Ihnen oder hinter Ihnen, links oder rechts von Ihnen, auf Ihrem Fernseher, auf Ihrem Bildschirm. Anderer Leute Gedanken und Gefühle müssen Ihnen irgendwie kommuniziert werden, Ihre eigenen hingegen sind so unmittelbar, dringlich, wirklich – Sie verstehen schon.

Aber befürchten Sie bitte nicht, dass ich Anlauf zu einer Predigt über Mitgefühl, Außengeleitetheit oder die „Tugenden“ nähme. Es geht nicht um Tugend – es geht darum, ob ich mich dafür entscheide, meine natürliche, fest verdrahtete Standardeinstellung mühevoll zu verändern oder mich aus ihr zu befreien.

Tatsache ist, dass Sie, die Sie jetzt das College verlassen, keine Ahnung haben, was „Tag für Tag“ eigentlich bedeutet. Zufällig nämlich kommen große Teile eines amerikanischen Erwachsenenlebens in Reden wie dieser üblicherweise nicht vor. Zu einem dieser Teile gehören Langeweile, Routine und triviale Frustration. Anwesende Eltern und ältere Semester werden nur allzu gut wissen, wovon ich rede.

Nehmen wir beispielsweise an, es ist ein ganz gewöhnlicher Tag und man steht morgens auf, fährt zu seinem anstrengenden Job und arbeitet neun oder zehn Stunden lang hart, und am Ende des Tages ist man müde und gestresst und will bloß noch nach Hause und ordentlich zu Abend essen und vielleicht noch ein paar Stunden ausspannen und dann zeitig in die Falle, weil man am Morgen früh raus und alles noch mal genauso machen muss.

Schlimmer Ausflug in den Supermarkt

Aber dann fällt einem ein, dass zu Hause nichts zu essen ist – die Woche über war, weil der Job anstrengend ist, keine Zeit einzukaufen – und also muss man sich jetzt nach Feierabend noch ins Auto setzen und zum Supermarkt fahren. Im Feierabendverkehr dauert das länger, als es eigentlich sollte, und als man endlich da ist, ist der Supermarkt überfüllt, denn es ist ja Feierabend und all die anderen Leute, die auch Jobs haben, wollen ihren Einkauf auch noch irgendwie dazwischen schieben, und der Laden ist fies und fluoreszierend beleuchtet und wird mit seelenmörderischem Muzak oder Konzernpop berieselt und ist so ziemlich der letzte Ort, an dem man sein will, aber einfach schnell rein und wieder raus, das geht nicht:

Man muss jeden Gang dieses riesigen, überbeleuchteten Ladens ablaufen, um zu finden, was man will, und man muss seinen schrottigen Einkaufswagen an all den anderen müden, gehetzten, Einkaufswagen schiebenden Leuten vorbeimanövrieren, und natürlich sind da auch noch diese glazial langsamen alten Leute und diese raumgreifenden Leute und die ADHS-Kinder, die allesamt den Gang versperren, und man muss die Zähne zusammenbeißen und sich um Höflichkeit bemühen, wenn man sie bittet, einen vorbeizulassen, und schließlich, endlich hat man zusammen, was man fürs Abendessen braucht, nur dass sich jetzt herausstellt, dass, obwohl doch Feierabend ist, nicht genug Kassen geöffnet haben, weshalb die Schlange an der Kasse unfassbar lang ist, was dumm und ärgerlich ist, aber an der panischen Frau hinter der Kasse kann man seinen Ärger ja nicht auslassen.

Jedenfalls, endlich ist man dran und zahlt und wartet, dass eine Maschine die EC-Karte akzeptiert, und kriegt mit einer Stimme „Schönen Abend“ gesagt, die unumschränkt die Stimme des Todes ist, und dann muss man seinen Einkaufswagen mit den gruseligen, hauchdünnen Plastiktüten voller Lebensmittel über den vollen, holprigen, zugemüllten Parkplatz schieben und die Tüten so in seinem Auto verstauen, dass nichts rausfällt und während der Fahrt nach Hause im Kofferraum rumrollt, und dann muss man den ganzen Weg nach Hause fahren, im zähen, dichten geländewagenintensiven Feierabendverkehr.

Der Punkt ist: die Arbeit der Entscheidung beginnt mit derart frustrierendem Kleinkram. Weil Stau und überfüllte Supermärkte und lange Schlangen mir Zeit zum Nachdenken geben, und wenn ich keine bewusste Entscheidung treffe, wie ich denken und worauf ich achten will, werde ich jedes Mal, wenn ich einkaufen muss, angekotzt und unglücklich sein, weil meine natürliche Standardeinstellung besagt, dass es sich hier eigentlich um mich dreht, um meinen Hunger und um meine Erschöpfung und um meinen Wunsch, bloß nach Hause zu kommen, und es sieht so aus, als wären alle anderen mir bloß im Weg, und wer sind all diese Leute, die mir im Weg sind, überhaupt?

Schau an, wie abstoßend die meisten von ihnen sind und wie dumm und kuhmäßig und totäugig und nichtmenschlich sie hier in der Schlange wirken oder wie nervig und unhöflich es ist, dass sie mitten in der Schlange laut telefonieren, und schau, wie zutiefst unfair das alles ist: den ganzen Tag habe ich geschuftet, und ich verhungere und bin müde, und wegen all dieser Leute komme ich nicht mal nach Hause.

Scheußliche Pick-ups mit 120-Liter-Tanks

Bei einer sozial verträglicheren Standardeinstellung kann ich meine Zeit im Feierabendverkehr natürlich auch damit verbringen, von all diesen riesigen, dummen, die Fahrbahn versperrenden Geländewagen und V12-Pick-ups angeekelt zu sein, die ihre verschwenderischen, selbstsüchtigen 120-Liter-Tanks leerfahren, und bei dem Gedanken verweilen, dass die patriotischen oder religiösen Aufkleber immer auf den dicksten, selbstsüchtigsten Autos kleben, die mit den hässlichsten, rücksichtslosesten, aggressivsten Fahrern, die üblicherweise in Handys reden, während sie Leuten den Weg abschneiden, um im Stau ganze fünfzig Meter zu gewinnen, und ich kann darüber nachdenken, wie unsere Kindeskinder uns verabscheuen werden, weil wir alle Brennstoffe verbraucht und wahrscheinlich das Klima ruiniert haben, und wie verdorben und dumm und ekelhaft wir alle sind und wie zum Kotzen alles ist.

Schauen Sie, wenn ich mich entscheide, so zu denken, fein, viele von uns tun das – außer dass diese Art zu denken so einfach und automatisch ist, dass man sich gar nicht erst für sie entscheiden muss. So zu denken ist meine natürliche Standardeinstellung. Es ist der automatische, unbewusste Weg, die langweiligen, frustrierenden, überfüllten Teile des Erwachsenenlebens zu erfahren, wenn ich mit der automatischen, unbewussten Überzeugung operiere, die Mitte der Welt zu sein, und glaube, dass meine unmittelbaren Bedürfnisse und Gefühle in der Welt Priorität haben sollten.

Allerdings kann man offensichtlich auch anders über diese Art von Situation nachdenken. Immerhin ist es nicht unmöglich, dass einige dieser Geländewagenfahrer in grauenhafte Autounfälle verwickelt waren und davon derart traumatisiert sind, dass ihr Therapeut ihnen die Anschaffung eines großen, schweren Geländewagens verordnet hat, damit sie sich sicher genug fühlen, um überhaupt fahren zu können; oder dass der Hummer, der mich gerade geschnitten hat, vielleicht von einem Vater gefahren wird, dessen kleines Kind auf dem Beifahrersitz verletzt oder krank ist, und er ins Krankenhaus zu rasen versucht und in weit größerer, gerechtfertigterer Eile ist als ich – eigentlich bin also ich es, der ihm im Weg ist.

Moralische Ratschläge? Aber nein!

Oder ich kann mich entscheiden, mich selbst dazu zu zwingen, die Wahrscheinlichkeit abzuwägen, dass jeder andere in der Schlange an der Supermarktkasse genauso angeödet und frustriert ist, wie ich es bin, und dass das Leben mancher dieser Leute alles in allem wahrscheinlich viel härter, mühsamer oder schmerzlicher ist als meins.

Noch einmal: Glauben Sie bitte nicht, ich gäbe Ihnen moralische Ratschläge oder meinte, sie „sollen“ so denken, oder irgendjemand erwarte von Ihnen, automatisch so zu denken, denn es ist schwer, es kostet Willen und geistige Anstrengung, und wenn Sie sind wie ich, dann werden Sie an manchen Tagen schlicht nicht dazu in der Lage sein und es an anderen rundheraus nicht wollen.

An den meisten Tagen jedoch, wenn Sie aufmerksam genug sind, sich selbst eine Wahl zu lassen, können Sie sich entscheiden, diese fette, totäugige, überkandidelte Frau, die an der Kasse eben ihr kleines Kind angebrüllt hat, mit anderen Augen zu sehen – vielleicht ist sie sonst nicht so; vielleicht hat sie drei Nächte lang ununterbrochen die Hand ihres Mannes gehalten, der gerade an Knochenkrebs stirbt, oder vielleicht ist genau sie die unterbezahlte Straßenverkehrsamtsangestellte, die Ihrer Gattin erst gestern mit einer kleinen bürokratischen Nettigkeit aus einem alptraumartigen Papierkrieg geholfen hat.

Natürlich, nichts davon ist wahrscheinlich, aber unmöglich ist es auch nicht – es hängt einfach davon ab, was Sie in Betracht ziehen wollen. So Sie sich automatisch sicher sind, was Wirklichkeit ist und wer und was wirklich wichtig – wenn sie also mit ihrer Standardeinstellung operieren wollen –, dann werden Sie, wie ich, Möglichkeiten, die nicht sinnlos und nicht unerfreulich sind, nicht in Betracht ziehen. So Sie aber wirklich gelernt haben, wie man denkt, wie man Aufmerksamkeit zollt, werden Sie wissen, dass Sie andere Optionen haben.

Es wird sogar in Ihrer Macht stehen, eine laute, langsame, wimmelnde Konsumhöllensituation nicht nur als bedeutungsvoll, sondern als geheiligt zu erleben, von derselben Macht entflammt, die die Sterne angezündet hat – Mitgefühl, Liebe, die Unteroberflächeneinigkeit aller Dinge. Nicht, dass solch mystisches Zeug notwendig wahr wäre: Die einzige Wahrheit mit großem W ist, dass Sie entscheiden, wie Sie es sehen. Sie entscheiden bewusst, was Bedeutung hat und was nicht. Sie entscheiden, was die Verehrung lohnt ?

In den Schützengräben des Erwachsenenlebens

Denn hier kommt noch etwas, das wahr ist. In den Tag-für-Tag-Schützengräben des Erwachsenenlebens gibt es so etwas wie Atheismus eigentlich nicht. Man kann nicht nicht glauben. Jeder glaubt an etwas. Die einzige Wahl, die wir haben, ist, an was wir glauben. Und ein bedeutender Grund, sich für den Glauben an einen Gott oder an etwas Spirituelles zu entscheiden – sei es nun J. C. oder Allah, sei es Jahwe oder die Wicca-Muttergottheit oder die Vier edlen Wahrheiten oder eine Reihe unverletzlicher ethischer Prinzipien –, ist, dass so ziemlich alles andere, an das man glaubt, einen bei lebendigem Leib auffrisst. Wer an Geld und Güter glaubt, wird nie genug haben. Nie das Gefühl haben, dass es reicht. Das ist die Wahrheit.

Wer an den eigenen Körper und die Schönheit und an sexuelle Reize glaubt, wird sich immer hässlich fühlen, und wenn Zeit und Alter nach und nach in Erscheinung treten, wird er eine Million Tode sterben, bevor man ihn schließlich begräbt. Auf einer Ebene wissen wir das alles schon – es ist in Mythen, Sprichwörtern, Klischees, Binsen, Epigrammen, Parabeln kodiert: das Skelett jeder großen Geschichte.

Der Trick jedoch ist, die Wahrheit täglich im Bewusstsein zu halten. Glaube an die Macht – du wirst dir schwach und ängstlich vorkommen und immer mehr Macht über andere brauchen, um deine Angst im Zaum zu halten. Glaube an deinen Intellekt, glaube daran, für clever gehalten zu werden – am Ende wirst du dir nur noch dumm vorkommen, wie ein Betrüger, immer kurz davor, entlarvt zu werden.

Schauen Sie, heimtückisch an diesen Glaubensformen ist nicht, dass sie böse oder sündig wären, sondern dass sie unbewusst sind. Es sind Standardeinstellungen. Sie sind die Art Glaube, in die man allmählich hineinschlittert, Tag für Tag, während man immer selektiver wahrnimmt und immer selektivere Wertmaßstäbe ansetzt, ohne dass es einem bewusst wäre. Und die Welt wird einen nicht davon abhalten mit seiner Standardeinstellung zu operieren, denn die Welt der Männer und des Geldes und der Macht summt mit dem Treibstoff der Angst und Geringschätzung und Frustration und Begierde und Verehrung des Selbst ganz fein vor sich hin.

Die Kultur unserer Gegenwart hat diese Kräfte eingespannt und so außerordentlichen Reichtum, Annehmlichkeit und persönliche Freiheit gewonnen. Die Freiheit, die Herren unserer eigenen winzigen, schädelgroßen Königreiche zu sein, allein im Zentrum aller Schöpfung. Und für diese Art Freiheit spricht viel.

Aber natürlich gibt es viele verschiedene Formen von Freiheit, und über die kostbarste werden Sie draußen in der großen Welt des Gewinnens und Erreichens und Herzeigens nicht viel zu hören kriegen. Zu der wirklich wichtigen Form von Freiheit gehören Aufmerksamkeit und Bewusstheit und Disziplin und Bemühen und die Fähigkeit, sich anderen Menschen wahrhaftig zuzuwenden und Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, jeden Tag, auf Myriaden von Arten, die trivial, klein und unsexy sind. Das ist wirkliche Freiheit. Die Alternative ist Bewusstlosigkeit, die Standardeinstellung, die „Tretmühle“ – das ständige nagende Gefühl, etwas Unendliches gehabt und verloren zu haben.

Ich weiß, wahrscheinlich klingt das nicht nach Spaß und Kinderspiel oder nach großartiger Inspiration. Aber es ist, soweit ich sehen kann, die Wahrheit, jede Menge rhetorischer Mist abgezogen. Offenkundig können Sie darüber denken, was Sie wollen. Nur tun Sie es bitte nicht als Dr. Laura-Sermon mit wackelndem Zeigefinger ab.

Nichts von alledem hat mit Moral oder Religion oder Dogma oder den großen schicken Fragen nach dem Leben nach dem Tod zu tun. Die Wahrheit mit dem großen W meint das Leben vor dem Tod. Sie meint, es bis 30 oder vielleicht bis 50 zu schaffen, ohne sich eine Kugel in den Kopf schießen zu wollen. Sie meint einfache Bewusstheit – ein Bewusstsein für das, was so wirklich und wesentlich ist, so unsichtbar allgegenwärtig, dass wir es uns wieder und wieder ins Gedächtnis rufen müssen: „Das ist Wasser, das ist Wasser.“

Aus dem Englischen von Wieland Freund.

Autor: ArtScienceSpirit

»Es ist kein Zeichen geistiger Gesundheit, gut angepasst an eine kranke Gesellschaft zu sein« (Jiddu Krishnamurti)

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